Worum geht es in der Studie?
In dem durch den WWT geförderten Projekt „Lernen im Ausnahmezustand“ haben wir uns mit den Folgen der Schulschließungen im April 2020 und der späteren Teilöffnung auseinandergesetzt. Wir haben zum einen untersucht, ob es durch das Lernen auf Distanz zur Vertiefung sozialer Ungleichheiten kam, und in welchen Bereichen sich Probleme manifestierten. Zum anderen gingen wir der Frage nach, welche neuen Spielräume durch selbstorganisiertes und informelles Lernen beim Lernen zu Hause erschlossen werden konnten.
Zu diesem Zweck haben wir Schüler*innen zwischen 6 und 21 Jahren, deren Eltern und Lehrende an elf Wiener Schulen (Volksschule, NMS, Gymnasium und Berufsschule) insgesamt dreimal mittels online-Fragebögen zu ihren Erfahrungen, Gefühlen und Problemen befragt. Der Fokus der Befragungen liegt jeweils auf der Situation der Schüler*innen. Die Ergebnisse des Projekts zeigen, wie Kinder und Jugendliche, deren Eltern und die Lehrer*innen das Lernen in der Zeit der Schulschließung und nach der Teilöffnung organisierten, wie diese den Lernfortschritt bewerteten und welche Ängste und Hoffnungen mit der Schulschließung und der Teilöffnung verbunden waren.
Auch Perspektiven für die zukünftige Gestaltung des Unterrichts und des Bildungswesens wurden erhoben. Diese Ergebnisse wurden in der Folge im Rahmen des Projekts mit interessierten Schüler*innen besprochen, um gemeinsam mit ihnen Empfehlungen zu entwickeln. Die Ergebnisse des Projekts weisen damit auch über die Beschreibung des unmittelbaren Erlebens der Schulschließung hinaus, indem Gestaltungswünsche und -chancen im Bildungsbereich thematisiert und analysiert wurden.
Was ist für Sie der spannendste Aspekt der Studie? Gab es überraschende Ergebnisse?
Wir konnten zeigen, dass die Schulschließungen tatsächlich einem beachtlichen Teil der Schüler*innen geschadet haben und dass insbesondere Schüler*innen, die aus ärmeren, bildungsbenachteiligten und/oder mehrsprachigen Familien kommen, bzw. bei Alleinerziehenden aufwachsen, Schwierigkeiten hatten und auch emotional unter der Schulschließung litten. Allerdings waren auch Schüler*innen aus gut qualifizierten Familien, deren Eltern durch Homeoffice wenig Ressourcen hatten, sie zu unterstützen, oft belasteter. Wer mehr Bildung, mehr Platz zuhause und zeitlich weniger beanspruchte Eltern hat, kam besser mit dem Lernen auf Distanz zurecht. Deutlich wurde aber auch, dass benachteiligte Schüler*innen von (teil-)offenen Schulen besonders stark profitierten.
Hervorzuheben ist, dass Mädchen und junge Frauen, insbesondere die über 14-Jährigen, stärker belastet waren als Buben bzw. junge Männer. Zugleich war zu sehen, dass Eltern die Lernaktivitäten ihrer Söhne besorgter beobachteten und diese stärker zu unterstützen oder zu beeinflussen versuchten als die ihrer Töchter. Mädchen traute man mehr Selbstorganisation und -motivation zu und übersah dabei die Überforderung und den erhöhten Aufwand. Auch Lehrkräfte nahmen die berichtete Überforderung der Mädchen und jungen Frauen nicht wahr. Diese Diskrepanz gilt es aufzugreifen und genauer zu analysieren.
Schüler*innen haben in der Befragung auch klare Vorschläge und Ideen zur besseren Gestaltung der Schule und des Lernens geäußert. Vor allem diejenigen aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien betonten, dass sie Freiräume und Selbstbestimmung beim Lernen wollen und brauchen (wie andere auch). Ebenso sehr brauchen und wünschen sie individuelle, persönliche Unterstützung. Die Schule ist durch die Pandemie als sozialer Raum des Lernens in den Blick geraten, und es braucht auch im wörtlichen Sinn geeignete und vielfältige Räume zum Lernen und Kooperieren an der Schule. Diese klaren Aussagen zeigen, dass es sich lohnt, Kinder und Jugendliche einzubeziehen, wenn man aus der Covid-19 Erfahrung lernen und Schulen offener, inklusiver und für alle förderlicher gestalten will.
Warum haben Sie sich entschieden, die Daten frei zugänglich zu machen?
Die Pandemie hat uns als Gesellschaft unerwartet in vielen Bereichen in ein Realexperiment gestürzt, deren Folgen auf unterschiedlichen Ebenen abzuschätzen sind, insbesondere auch durch sozialwissenschaftliche Expertise und mit Blick auf die verschiedenen Lebensrealitäten der Bevölkerung. Der Bereich der Schule und die Lebenszusammenhänge von Kindern und Jugendlichen sind da zentral. Wir haben in dem Projekt in drei Wellen Perspektiven von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen erhoben. Diese Daten erfassen Erfahrungen und Einschätzungen zu den Folgen der Schulschließung und der Teilöffnung und bieten vielseitige Analysemöglichkeiten, welche für evidenzbasierte Politik und Empfehlungen entscheidend sind. Wir hoffen, dass die Daten dazu genutzt werden können, viele, noch nicht im Detail behandelte Fragestellungen und offene Fragen und Hypothesen, die in Forschungskontexten Relevanz haben, zu prüfen.
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Dr. habil Ursula Holtgrewe, Soziologin, seit 2016 Leitung des Bereichs "Arbeit und Chancengleichheit" am Zentrum für soziale Innovation.
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Dr.in. Irina Vana, Soziologin und promovierte Sozialhistorikerin, seit 2017 am Zentrum für soziale Innovation als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin im Bereich Arbeit und Chancengleichheit tätig.
- Martina Lindorfer hat an der Universität Wien Internationale Entwicklung studiert und ist seit 2008 als Projektleiterin und Forscherin am ZSI tätig. Derzeit arbeitet sie im Referat „Arbeit und Chancengleichheit“ an Projekten zu den Themen Digitalisierung, Arbeitsmarktintegration und Chancengleichheit im Bildungssystem.
Carmen Siller hat einen Universitätsabschluss in Angewandter Sprach- und Kulturwissenschaft. Seit März 2005 arbeitet sie am ZSI. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Bildung und kindliche Entwicklung. Aktuell leitet sie den Beitrag des ZSI zum H2020 Projekt STEP Change Projekt (2021-2024), in dem sie die Feststellung des Trainingsbedarfs verschiedener Citizen Science Initiativen koordiniert, geeignete Ausbildungsformate mitentwickelt und gegenseitiges Lernen und Austausch unterstützt.